Seit Jahrhunderten konzentriert sich die Biologie auf Gene als die primären Architekten des Lebens. Eine wachsende Zahl von Forschungsergebnissen zeigt jedoch, dass die Physik – insbesondere mechanische Kräfte – eine weitaus entscheidendere Rolle bei der Gestaltung von Organismen spielt als bisher angenommen. Von der Entwicklung der Embryonen bis zum Abstand der Federn werden physikalische Prozesse nicht nur durch Gene beeinflusst, sondern treiben aktiv Wachstum und Form an.
Jenseits des genetischen Bauplans
Die traditionelle Sichtweise der Biologie betont chemische Signale, die durch genetische Anweisungen ausgelöst werden. Dieses Bild schien jedoch oft unvollständig zu sein. Moderne Bildgebungs- und Messtechniken ermöglichen es Wissenschaftlern nun, die wirkenden mechanischen Kräfte zu beobachten und aufzudecken, wie Gewebe als Reaktion auf ihre Materialeigenschaften drückt, zieht und sich neu anordnet. Dieser Perspektivwechsel belebt das Interesse an prägenetischen Modellen der Biologie und spiegelt Ideen wider, die erstmals vor über einem Jahrhundert vorgeschlagen wurden.
Im Jahr 1917 veröffentlichte D’Arcy Thompson „On Growth and Form“ (Über Wachstum und Form), in dem er die auffallenden Ähnlichkeiten zwischen Formen in lebenden Organismen und denen, die in nichtlebender Materie entstehen, hervorhebt. Thompson argumentierte, dass auch die Physik uns präge, eine These, die wieder an Popularität gewinnt. Die Frage ist nun nicht, ob die Physik wichtig ist, sondern wie sie mit genetischen Anweisungen zur Formung von Organismen interagiert.
Der Marangoni-Effekt und die Embryonalentwicklung
Ein eindrucksvolles Beispiel für dieses Zusammenspiel liefert die jüngste Forschung zur Embryonalentwicklung. Ein Team von Biophysikern in Frankreich entdeckte, dass der Marangoni-Effekt – das gleiche Phänomen, das die Bildung von „Weintränen“ an der Seite eines Glases verursacht – für den entscheidenden Moment verantwortlich ist, in dem sich ein Zellklumpen verlängert und eine Kopf-Schwanz-Achse entwickelt.
Der Marangoni-Effekt tritt auf, wenn zwei Flüssigkeiten mit unterschiedlicher Oberflächenspannung aufeinandertreffen. Die Flüssigkeit mit höherer Spannung zieht an der anderen und erzeugt so eine Strömung. Bei embryonalen Zellen erzeugen Gene einen Unterschied in der Oberflächenspannung, wodurch die Zellen fließen und den sich entwickelnden Organismus verlängern. Dieser mechanische Prozess ist kein Ersatz für genetische Anweisungen, sondern eine direkte Folge davon.
Jenseits von Embryonen: Federbildung und Zelldehnung
Der Einfluss mechanischer Kräfte reicht über die Embryonalentwicklung hinaus. Forscher, die die Federbildung von Vögeln untersuchten, fanden heraus, dass der regelmäßige Abstand der Federn nicht allein durch genetische Signale bestimmt wird. Stattdessen bereiten Gene die Voraussetzungen dafür, dass mechanische Kräfte die Follikelentwicklung steuern. Die molekularen Signale beeinflussen die Materialeigenschaften des Gewebes, wodurch physikalische Kräfte wirken.
Ebenso haben Studien an Fruchtfliegenembryonen gezeigt, dass sich Zellen nicht einfach selbst neu anordnen; sie strecken. Diese Dehnung ist direkt auf die Genaktivität zurückzuführen, die die Zellen elastisch macht. Die Beziehung zwischen Kraft und Dehnung folgt dem Hookeschen Gesetz – dem Prinzip, dass sich Materialien proportional zur ausgeübten Kraft dehnen. Der Zeitpunkt der Dehnung hängt von der Quadratwurzel der ausgeübten Kraft ab, ein Verhalten, das mit der Produktion des Proteins Aktin zusammenhängt. Durch die Blockierung der Aktinproduktion wird die elastische Reaktion eliminiert und ihre Rolle im Prozess bestätigt.
Das Zusammenspiel der Skalen
Die größte Herausforderung besteht nun darin, zu verstehen, wie diese Kräfte auf verschiedenen Ebenen wirken, von Genen über Zellen bis hin zu Geweben. Es handelt sich nicht um einen einfachen linearen Verlauf, bei dem molekulare Anweisungen übergeordnete Eigenschaften vorgeben. Stattdessen entstehen Prozesse gemeinsam, wobei mechanische Kräfte auf mehreren Ebenen eine entscheidende Rolle spielen.
Die Arbeit stellt die traditionelle Ansicht in Frage, dass Regulierung ausschließlich auf molekularer Ebene erfolgt. Bei der Federentwicklung beispielsweise treten gleichzeitig Veränderungen auf molekularer und Gewebeebene auf. Dies deutet darauf hin, dass es in der Biologie nicht nur darum geht, was die Gene den Zellen sagen, sondern auch um die physikalischen Zwänge und Kräfte, die ihr Verhalten prägen.
Wie der Physiker Alexandre Kabla es ausdrückt: „Wo es Bewegung gibt, ist wahrscheinlich auch die Mechanik im Spiel.“ Die wachsende Anerkennung dieses Prinzips verändert unser Verständnis vom Leben selbst














































